Die neue "alte" Patientin aus Bordesholm kommt
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Man sollte als Behandler immer ein wenig vorsichtig sein, denn 100% weiß man es ja doch nicht.
Gestern sollten bei der Patientin 2 Wurzelkanalbewhandlungen erbracht werden.
Wir hatten keine Röntgenbilder, haben diese aber am Nachmittag erhalten.
Dann kam hier etwas Veblüffung auf, denn es war eine der möglichen Planungen heute beide Zähne zu entfernen.
Dann kamen allerdings erste Bedenken auf, denn für eine Mitte Siebzigjährige zeigen die Röntgenbilder nur wenig Ergiebiges. Man kann durch aus an Zahn 36 eine leichte Aufhellung erkennen. Das Problem dabei aber so ein wenig: Wenn man sich die Nachbarzahnregionen anschaut, dann kann man dort auch leichte Aufhellungen erkennen, auch wenn da schon lange Zeit gar kein Zahn mehr steht, weil der Knochen eben nicht amorph aufgebaut ist, sondern trabekulär.
Ein Telefonat ergab dann, dass die Patientin über eine rote und warme Wange linksseitig klagt.
Nun schaut man sich den Funktionellen Eingangsbefund aus dem Jahr 2019 an.
Nun muss man vorsichtig sein.
Erste klare Reaktion: Zahnentfernungen sind aktuell kontraindiziert.
Wurzelkanalbehandlungen können nicht ausgeschlossen werden, scheinen aber nicht wirklich 100% sicher.
Was hingegen abgeklärt werden muss, ob die Patientin, die seit Jahren einen Aufbissbehelf trägt, und zwar 24 Stunden am Tag und dieser Aufbissbehelf schon seit Jahren nicht mehr reevaluiert wird, einfach nur ein funktionelles Rezidiv zeigt.
Man kann hier sicherlich nichts wirklich ausschließen, aber die Reihenfolge der möglichen Behandlungen sollte anders gestaltet werden.
Man muss sich in seinen Überlegungen immer folgendes vor Augen halten:
Die Patientin ist Mitte 70.
In diesem Alter kann es schon zu Mineralisationsdefiziten des Knochens kommen, Stichwort Osteoporose. Diese wiederum führt im Röntgenbild zu lokalisierten Aufhellungen, heißt das Röntgenbild ist in einigen Bereichen röntgenstrahldurchlässiger, damit also schwärzer.
Der Knochen ist trabekulär aufgebaut, heißt auch in anderen Regionen gibt es Bezirke, die heller und dunkler im Röntgenbild erscheinen, ohne dass da Jemand auf die Idee kommen würde, eine Behandlung durchzuführen.
Deshalb heute:
- Klinische Funktionsanalyse
- Herstellung eines neuen Aufbissbehelfs
- Abwarten und sehen was passiert
- Möglicherweise, und das hängt vom weiteren Verlauf ab, eine Endodontie, die wiederum einen Versuch darstellt einen Zahn zu erhalten.
Besser wäre es natürlich gewesen, die Patientin hätte die 2019 begonnene und erfolgreiche Funktionstherapie fortgeführt.
Dass das nicht so gelaufen ist, dafür mag es viele Gründe geben. Oftmals eben auch solche, auf die der Behandler uns sein Team keinen Einfluss haben.
In letzter Konsequenz dient diese Darstellung dazu, dass es eben nicht so einfach ist, das richtige zu diagnostizieren und nachfolgend zu therapieren.
Es kommen aber noch ganz andere Überlegungen dazu und die beziehen sich auf die Abwägung.
Was passiert denn nun, wenn der geplante Aufbissbehelf hilft?
Gleichzeitig aber die Erkenntnis reift, dass mindestens Zahn 36 chronisch pulpitisch ist, aber der Patientin keine relevanten Beschwerden versursacht.
Zur endodontischen Behandlung die bestehende Brückenversorgung im dritten Quadranten entfernt und damit die Lagerung des Aufbissbehelfs verloren geht.
Was wiederum zu einem Explodieren der funktionellen Beschwerden führen wird.
Kann es dann, in der Abwägung, denn die Patientin hat offensichtlich nicht die notwendigen wirtschaftlichen Ressourcen sich fachgerecht sanieren zu lassen, richtig sein, mit dem pathologischen Befund 36 weiter zu arbeiten, weil es dann, unter Erhalt der Brückenkonstruktion möglich sein dürfte den Aufbissbehelf in Funktion zu halten.
Schlaue Kollegen wissen das natürlich alles besser und das vor allem ex-ante.
Man selbst sitzt ein bißchen nachdenklich da und überlegt, was unter den genannten Gesichtspunkten, für die Patientin wohl die beste Möglichkeit sein könnte.
Was hier aus medizinischer Sicht richtig und nicht richtig sein könnte, darüber dürfte wenig Dissens vorliegen.
Was dann aber im konkreten Fall, unter begrenzten Mitteln, real und mit dem besten Nutzen für die Patientin, durchgeführt wird, steht auf einem ganz anderen Blatt Papier.
Dabei muss der Behandler sich stets darüber bewusst sein, dass er sich selbst haftungsrechtlich nicht aufs Glatteis begibt.
Das macht den Beruf oftmals schwierig, weil in der Realität eben oftmals nicht das umsetzbar ist, was im Elfenbeinturm als richtig erscheint.
So richtig Fahrt nähme diese Diskussion erst auf, wenn nun beispielsweise in "Sozialen Medien" darüber diskutiert würde, was denn in einem derartgein Fall wohl das Richtige sein könnte.
Vermutlich würden all jene Claqueure, die nichts auf die Reihe bringen, aber alles immer besser wissen, was hier richtigerweise zu tun sein müsste,