Eine neue Patientin aus Niedersachsen
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Manchmal steht man selbst so ein bisschen ratlos da.
Da erscheint eine neue Patientin aus Hannover und beklagt einen Beschwerdelevel von "10".
Hinter ihr liegen unter anderem Behandlungen mit Kronen, die übrigens gut aussehen.
Weiterhin eine vierjährige kieferorthopädische Erwachsenenbehandlung mit katastrophalerm Behandlungsergebnis.
Mindestens 3 Schienen und einer Vielzahl von Zahnärzten und Ärzten, die alle nichts zu bewirken vermochten.
Es erfolgt eine umfassende Erstuntersuchung.
Das erste kleine Problem kommt auf, weil die Patientin nicht IHRE Geschichte erzählen darf. Also, wenn man so will IHRE Erklärung und Interpretation für das, was da in den vergangenen Jahren passiert ist. Dafür gibt es gute Gründe sich nicht die Interpretation des Patienten anzuhören, denn ob bewusst oder unbewusst möchte der Patienten dem neuen Arzt damit etwas auf den Weg geben. Am Besten, dass dieser zu der gleichen Meinung kommt, wie der Patient. Denn nur der weiß ja am allerbesten, woher was kommt und was man dagegen tun könnte.
Ganz kritisch wird es dann, wenn die Beahuptung im Raum steht der Vorbehandler habe alle Zähne beschliffen und seitdem passe der Biss nicht mehr und sich dann in der klinischen Untersuchung herausstellt, dass von den 16 Seitenzähnen nur 6 Zähne mit Kronen versorgt sind, so dass eines mit Sicherheit fest steht: Es sind nicht alle Zähne abgeschliffen worden und von daher können die 6 Kronen auch nicht einen gesamten Biss abgesenkt haben, wenn 10 andere Seitenzähne in der gleichen okklusalen Ebene liegen. Es fällt vielleicht schwer das zu akzeptieren, aber der zeitliche Zusammenhang bedeutet eben nicht zwangsläufig, dass auch ein kausaler Zusammenhang bestehen muss. Für einen Patienten, der das aber nicht wahrhaben will, weil Keiner seine Geschichte so gut kennen könne, wie er selbst, kann dass dann zum Bruch führen, wenn der Arzt nicht nur eine eigene Meinung vertritt und die auch noch zu belegen vermag.
Man muss nicht viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass ein Patient da meinen könnte: "Die stecken eh alle unter einer Decke!"
Eigentlich ist das das Schimmste, was ein CMD Behandler tun kann: Sich die Interpreationen des Patienten anzuhören, die er, der Behandler auch nicht mehr aus seinem Kopf heraus bekommt und die ihn wiederum, ob bewusst oder unbewusst in seinem weiteren Bemühen den medizinischen Sachverhalt aufzuklären beeinflussen werden und das auch sollen!
Denn genau das ist doch der Sinn der patienteneigenen Interpretation seines Falles.
Es folgen die üblichen Formulierungen: "Ich möchte doch nur, dass alles wieder so wird wie früher!"
Dabei weiß keiner ganz genau, wie es früher war und ob der Zustand des stomatognathen Systems damals richtig war, oder aber der Patient nur mehr Kompensationsfähigkeit besaß als heute, um die alten Fehler auszugleichen.
Statt dessen wird dann auf einmal darüber diskutiert, dass im Oberkieferfrontzahnbereich doch eigentlich die leicht verschachtelten Frontzähne gerichtet werden sollten, damit die wieder in Reih und Glied gerade stehen!
Nun fragt sich der Behandler: Beschwerdelvel 10! Und dann reden wir über die optische Korrektur von Frontzähnen?
Man sitzt dann als Behandler da und kann es nicht verstehen, weil man zurecht davon ausgehen kann, dass ein Patient mit Beschwerdelevel 10 an alles Mögliche denkt, aber nicht an die Korrektur minimal gedrehter Frontzähne.
Man geht auseinander, ist ratlos, fragt sich, was mag in der Patientin vorgehen und kommt letztendes zumindest in diesem Moment zu dem einzig sinnvollen Schluss, dass die Patientin eigene Vorstellungen hat, wie eine solche Behandlung ablaufen müsse und nun den Arzt sucht, der ihren Vorstellungen bereit ist zu folgen.
Sachlich bleibt die Erkenntnis, dass alle bisherigen Zahnärzte/Kieferorthopäden, die sich die Patientin vermutlich nach den gleichen Kriterien in der Vergangenheit ausgesucht hat, ihr alle nicht helfen konnten.
Statt nun zu akzeptieren, dass es einfach vielleicht nicht so funktioniert, wie die Patientin sich das vorstellt und es an der Zeit wäre etwas Neues auszuprobieren, werden alte Muster weiter betrieben.
Ob wir der Patientin hätten helfen können, wissen wir nicht.
Dass der Weg der Patientin, bei dem uns nicht mal konkret klar ist, was die Patientin überhaupt genau will, zu einem guten Ende führen wird, ist eher unwahrscheinlich.
Dass es möglicherweise die Patientin ist, die die Lösung dieses Falles verhindert, ist da schon eher ein Gedanke, den man haben muss.
Mit derartigen Fällen muss man leben. Sie gehen einem aber häufig eine ganze Zeit lang nicht aus dem Kopf, weil es schwer zu verstehen ist, dass ein Patient eher bereit ist mit seinem Beschwerdelvel 10 weiter zu leben, als sich in die Hände eines Fachmannes zu begeben und vorbehaltlos prüfen zu lassen, ob man dem Patienten zu helfen vermag. Und zwar nach den Vorgaben des Arztes! Gerade deshalb, so könnte man meinen, geht doch ein Patient zu einem neuen Arzt, um zu erfahren, ob diese vielleicht etwas anders macht, als die bisherigen Ärzte!
Das Ganze erscheint einem so, als wenn ein Sachverständiger vor einem vollkommen zerstörten Unfallfahrzeug steht und sich die Frage stellt, ob es vielleicht gelingen könnte das Fahrzeug mit viel Aufwand wieder herzustellen und der Besitzer des Fahrzeugs darüber lamentiert, dass ihn schon immer gestört habe, dass am linken Kotflügel ein kleiner Kratzer war, den ein Steinschlag ausgelöst hatte und wie man den beseitigen könne.
Die Diskrepanz zwischen realer Situation und der Einschätzung durch den Betroffenen klafft so weit auseinander, dass es der Sachverständige nicht hinbekommt diese offensichtliche Diskrepanz intellektuell zu erfassen, noch weniger zu begreifen.
So ähnlich muss es sein, wenn man ein Schiff auf Grund setzt, dann flüchtet und glaubt, weil man nicht sähe wie das Schiff unterginge, ginge es dann nicht unter.
Das Problem dabei ist nur, dass der Patient sein Schiff nicht verlassen kann und mit untergehen wird.
Was aber auch sein kann, dass der Patient gar nicht möchte, dass man ihm seine Krankheit weg nimmt, weil diese Krankheit eine wichtige Rolle in seinem Leben einnimmt. Und da sind wir dann im Bereich der psychosomatischen, oder auch der psychiatrischen Erkrankungen.
Was bei dieser Patientin vorliegt ist unklar. Ob es gelingen könnte die Beschwerden einer okklusalen Störung zuzuornden wird davon abhängen, ob die Patientin bereit ist ihre Interpretation der Geschehnisse loszulassen oder sich weiter Behandler sucht, die bereit sind ihre Vorstellungen anzunehmen und zur Grundlage ihrer behandlerischen Vorgehensweise zu machen. Wohin das vermutlich führen wird, dazu muss man nicht studiert haben, um sich das vorstellen zu können...
Schade ist es in jedem Fall den Moment des ersten Kontaktes in einem derartigen Fall ungenutzt verstreichen zu lassen. Einen zweiten Anlauf zu finden und noch einmal das gleiche Interesse zu wecken ist dann schon ein wenig schwieriger, denn die Situation ist vorbelastet. Nichts ist unmöglich, aber man ist als Behandler im zweiten Anlauf nicht mehr so unvorbelastet wie beim ersten Kontakt.
Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass es in derartigen Fällen eher selten zu einem zweiten Kontakt kommt, denn eigentlich sucht der Patient ja gar nicht wirklich eine Lösung seiner Beschwerden, sondern einen Arzt, der bereit ist sich von der Sichtweise des Patienten überzeugen zu lassen.