Extrem schwer erkrankte Patientin aus der Region Bielefeld nach der ersten Nacht
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Der Morgen begann, sagen wir es ruhig: Beschissen!
Beschwerdelvel 10: Business as usual.
Obwohl hier auch andere Patienten in der Praxis behandelt wurden, drehte sich praktisch der gesamte Vormittag nur um diese Patientin.
Alle anderen Patienten wurden nur kurz inspiziert und wenige Worte konnten gewechselt werden, obwohl sich auch der eine oder andere dieser Patientin noch ein paar Minuten der Zuwendung gewünscht hätte.
Der Aufbissbehelf wurde mehrfach und umfangreich geändert und um 11:10 Uhr ist dann der Durchbruch gelungen.
Auch das muss man erlebt haben, wie nach der Eingliederung des Aufbissbehelfs, auf einmal Stille im Raum herrschte, weil alle Beteiligten, ob der aufwühlenden Ereignisse mental erschöpft waren und auf einmal die Patientin aus dem Behandlungsstuhl aufspringt, in Tränen ausbricht und dem Behandler um den Hals fällt und danach dann den Familienangehörigen.
Es wäre weg!
In einem Moment, als man selbst kurz davor war fachlich zu resignieren, weil die Dinge zwar alle zusammenzupassen scheinen, aber sich nicht das ergibt, was ergriffene Maßnahmen üblicherweise zu bewirken vermögen.
Der Beschwerdelevel ist nach sehr kurzer Zeit auf Level: 8 gefallen und dann nach weiteren dreißig Minuten auf den letzten Stand des heutigen Tages: Beschwerdelevel: 6.
Nun steht der Patientin das Erstaunen regelrecht ins Gesicht geschnitten, zumal sich genau das heraus kristallisiert, was man über Stunden versucht hat der Patientin immer und wieder zu erklären, dass die Gefühle, wie dort etwas nicht richtig funktioniere, sich in kein konkretes Substrat überführen lassen.
Wenn ein Patient das Gefühl hat seine Zunge brenne, dann brennt die Zunge eben nicht wirklich und so ähnlich verhält es sich, wenn ein Patient das Gefühl hat, Der Zahnbogen sei zu eng, oder die Zunge zu groß und sich im Nahhinein heraus stellt, erfolgt eine Einstellung einer physiologischen Okklusion diese Missgefühle alle, wie von Zauberhand behandelt, auf einmal verschwinden.
Für den Patienten letzten Endes egal, für den Behandler hingegen nicht. Der muss nämlich lernen, was sich hinter Formulierungen: "Ich finde keinen Halt", "Mein Kiefer will immer nach vorne", "Meine Kiefergelenke spreizen sich", und vielen anderen, in Wirklichkeit verbirgt.
Im Moment liegt eine sehr hohe innere Erschöpfung des Behandlungsteams in diesem Fall vor, zum einen, weil zumindest den hier Beteiligten die gesamte Dramatik des Falles vermutlich in einem weit größeren Maße bewusst ist, als selbst den betroffenen Angehörigen, zum anderen, weil man zumindest aktuell festzustellen vermag, dass man dauerhaft so keine CMD Praxis zu führen vermag, denn hier sind viele und das fast ausschließlich CMD Patienten in laufenden Behandlungen, die alle an erhebliche Beschwerden leiden und deren Beschwerden, und das damit verbundene, höchstkonzentrierte feinmanuelle Arbeiten am Behandler zerren, der das inzwischen seit 30 Jahren praktiziert.
Es ist nicht zu viel gesagt, dass man hier ein interessantes Buch schreiben könnte, in dem es auch darum gehen würde, was diese Dinge über die vielen Jahre mit dem medizinischen Personal macht, das auf der anderen Seite des Behandlungsstuhles steht, zumeist auch sitzt.
Der Erfolg ist dabei häufig nicht der Rede wert, die vermeintlich falschen Auffassungen des Arztes hingegen durchaus und ein Bedürfnis nach außergewöhnlicher Zuwendung hingegen Muss und Erwartung derartiger Behandlungen.
Es gibt hier durchaus immer wieder einmal Überlegungen die Behandlung von CMD Erkrankten zu limitieren oder gar komplett einzustellen, weil der persönliche erlebte Einsatz nicht immer, aber doch immer öfter, in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Nutzen stehen, der dafür beim Behandlungsteam entsteht. Denn das wird oftmals und gerne vergessen. Dort stehen auch nur Menschen, die den ganzen Tag nichts anderes hören, als die unwahrscheinlichen Beschwerden dieser Patienten und von denen nicht selten erwartet wird, dann auch noch im Sinne einer Empathie persönlich mitleiden zu sollen. Zumindest aber im Sinne eines ganz großen Sandsackes, für alles und jeden ein offenes Ohr haben müssen und zudem immer vor Augen haben, dass der Patient letztendlich krank und daher alles machen darf, was dieser möchte.
Stellen wir folgendes fest: Dieser Fall ist noch lange nicht gelöst und wir wissen nicht einmal, ob wir ihn lösen werden und wollen.
Für die Patientin ist inzwischen aber, davon gehen wir ganz fest aus, erst einmal ein Durchbruch erreicht und selbst für den hat sich die Reise nach Kiel schon gelohnt.
Wir müssen jetzt die nächste Nacht abwarten und würden uns freuen, wenn die Patientin erstmals nach langer Zeit wieder Ruhe und Entspannung findet und sich die enormen Anstrengungen der beiden Tage in ein greifbares Substrat niederschlagen würden.
Selbst wenn sich das so entwickeln würde, werden wir in den kommenden Tagen selbst erst einmal in uns gehen müssen, ob wir uns einer etwaigen Weiterbehandlung überhaupt stellen wollen.
Letzten Endes hätten wir, die an uns gestellte Aufgabe erfüllt und könnten die Diagnose mit einem konkreten Ergebnis abschließen.
Das sind die Dinge, die sich in einem CMD CENTRUM ereignen, in dem es nicht darum geht, dem Patienten eine Leistung zu vermitteln, unabhängig von der Frage, ob es dem Patienten überhaupt hilft, sondern im Zweifelsfall und das ganz spontan, ein ganzer Vormittag einem Patienten gewidmet wird, und alle anderen Patienten am Behandler vorbei vom Assistenzpersonal betreut werden, um diese Sondersituation überhaupt zu ermöglichen.
Dass man dabei den anderen Patienten nicht gerecht geworden ist und auch nicht gerecht werden konnte ist so.
Das führt zwangsläufig zu einem höheren Verschleiß der vorhandenen Behandlungskapazitäten, bei dem man immer vor Augen haben muss, dass man regelmäßig mit Patienten zu tun hat, die sprichwörtlich auf dem Zahnfleisch gehen. Es bringt nur leider nichts, wenn der Behandler am Ende selbst auf dem Zahnfleisch kriecht.
Es nützt auch leider nichts darauf hinzuweisen, dass der Arzt ja schließlich deshalb Arzt geworden sei, um seinen kranken Mitmenschen zu helfen, wo er nur kann. Dabei ist es gesellschaftlich akzeptierte Meinung, dass der Arzt und auch dessen Personal doch selbst schuld haben, wenn sie sich in Ausübung eines "Helfersyndroms" dabei selbst kaputt machen.
Man muss schon selbst erleben, was es bedeutet, wenn man nachts selbst nicht in den Schlaf kommt, weil man sich fragt, ob dass, was man bei einem schwer kranken Patienten am Tag zuvor erbracht hat wirklich auch alles so richtig erbracht worden ist, oder ob man nicht vielleicht einen anderen Ansatz hätte wählen sollen.
Dabei darf man nie vergessen, dass der versierte Behandler Dinge weiß, die der betroffene Patient sich nicht einmal in seinen schwärzesten Träumen vorzustellen vermag.
Deshalb sollte man diesen BLOG auch ganz bewusst nicht nur als das betrachten, was es auch ist: Eine Informationsquelle, wie es in Wirklichkeit abläuft.
Auf der anderen Seite ermöglicht es einem Behandler sich zunehmend mehr darüber klar zu werden, was er in seiner beruflichen Ausübung will und was nicht mehr.
Jedenfalls ist das allemal besser diese Erkenntnisse für sich und andere zu formulieren, als innerlich zu kündigen, den Patienten pseudozubehandeln, sich dabei zunehmend innerlich zu distanzieren und die Arztbehandlung als ein "Gewerbe" zu betrachten, bei dem es mal klappt und mal nicht.
Ob es hier klappt wissen wir noch nicht. Es spricht sehr vieles dafür. Die Überlegungen, ob man überhaupt bereit ist diese Kraftanstrengung auf sich zu nehmen, die eine derartiger Fall in einer möglichen Lösung, über einen Zeitraum von ca. 2 Jahren einem gesamten Behandlungsteam abverlangt, darüber werden wir, sollte das überhaupt zur Debatte stehen, erst einmal selbst in aller Ruhe nachdenken müssen.
Denn, wir wiederholen es an dieser Stelle immer wieder einmal. Nicht nur der Patient muss das Gefühl haben beim richtigen Arzt zu sein, sondern auch der Arzt muss sich die Frage stellen, ob er unter den gegebenen Bedingungen überhaupt in der Lage ist, dem erteilten Auftrag gerecht werden zu können.